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42. There is hope in this world

Liebe Leute, ich warne euch, das könnt heut lang werden. Mein Kopf ist vollgestopft mit Gedanken und Erlebnissen und Erfahrungen, und die müssen niedergeschrieben werden. Weil das hilft meistens.

 

Es war ein komisches Gefühl, als ich soeben den Laptop hochfuhr (nach einem gemütlichen Sonntag mit Kirche, Markt, Strandspaziergang mit meiner Gastmama und Suppe kochen) – ich fragte mich, während ich mein Passwort eintipselte und freundlich willkommen geheißen wurde, ob ich den Computer wirklich anmachen wolle. Ob es nicht doch besser wäre, Block und Stift im wahrsten Sinne des Wortes zur Hand zu nehmen und meinen Blogeintrag händisch zu verfassen. Oft tu ich das auch, zuerst händisch schreiben und dann nur eintippen, aber heute hätt das glaub ich auch nicht funktioniert. Was ist denn nun das Problem?

 

Ich wusste, dass ich, sobald ich auch nur eine einzige Online-Zeitung oder ein soziales Netzwerk öffnen würde, das Ergebnis der heutigen Bundespräsidenten-Wahl in Österreich erfahren würde. Eigentlich nichts Schlimmes. Eigentlich nur eine Information. Aber nein, das ist viel mehr als nur eine einfache Information. Ich bin keine Politikwissenschaftlerin und habe weder das Wissen noch Lust, eine Abhandlung über den Zustand Österreichs bzw die Denkweisen von uns ÖsterreicherInnen zu verfassen, trotzdem glaube ich, dass wir uns mal alle bei der Nase nehmen und drüber nachdenken müssen, was so ein kleines Kreuzerl am Stimmzettel in der Masse dann wirklich bedeutet.

 

Hier in Frankreich bin ich grad 10 Monate lang in gewissem Maße Botschafterin meiner Heimat. Normalerweise bin ich das auch gern. Ich erzähle von wunderschöner Natur, verhältnismäßig niedriger Arbeitslosenquote, einem halbwegs funktionierenden Schulsystem, freiwilligem Engagement, traumhaften Ballkleidern, Leuten, die Fremdsprachen auch wirklich sprechen können, Mozart, Sisi und Sound of Music. Aber manchmal vergeht mir die Lust, dieses Land zu repräsentieren. Jetzt ist grad so ein Moment.

 

Ich könnte mich jetzt furchtbar aufregen. Ich könnte einen Blogeintrag verfassen, in dem ich erkläre, dass ich auf Grund meiner heutigen Stimmungslage keinen Blogeintrag schreiben würde. Ich könnte mich theoretisch übergeben, da ich dazu grad genug (übrigens sehr leckere, mit österreichischem Kürbiskernöl verfeinerte) Gemüsesuppe gegessen habe. Ich könnte auf voller Lautstärke Musik aufdrehen und versuchen, alles aus meinem Kopf auszuradieren, was ich grad vor einer Stunde erfahren hab. Ich könnte sagen, es ist doch alles wurscht, wir sind ja sowieso schon dabei, die Menschheit zum Abgrund zu treiben. Ich könnte…

 

Ich bestaune den Sonnenuntergang, der den hellbauen Himmel mit dunkelroten, orangen und rosaroten Wolken schmückt. Ich lausche den Franzosen, die unter meinem Fenster ein abendliches Gespräch führen. Ich genieße den vielseitigen Duft der Gemüsesuppe am Fensterbrett. Ich betrachte meine Fotowand, die mich tagtäglich an meine Lieben erinnert. Ich hab diesem Blogeintrag einen Titel gegeben, der gar nicht zur Einleitung passt, wohl aber

zum Rest. Denn: Die Wahl ist noch nicht entschieden. Und:

Wenn viele kleine Menschen an vielen kleinen Orten viele kleine Schritte tun, können sie das Gesicht der Welt verändern.

 

Ich bezeichne mich gern als einer dieser kleinen Menschen. Wenn ich diesen Satz derartig niedergeschrieben sehe, klingt er fast schon überheblich. Aber will ihn trotzdem nicht wieder weglöschen. Weil es nämlich einfach wahr ist. Und es eigentlich erschreckend ist, dass ich mich nicht wohl dabei fühle, das so zu formulieren. Wir alle sollten so selbstbewusst und engagiert sein, uns als einen dieser kleinen Menschen zu bezeichnen. Weil es eigentlich

nicht schwer ist. Man muss ja nur ein kleiner Mensch sein und an einem kleinen Ort einen kleinen Schritt tun – und sich dessen dann guten Gewissens bewusst sein.

 

Erwartungsvoll, motiviert und stolz, nur einen kleinen Rucksack als Gepäck zu haben, schaute ich am Donnerstag vor zwei Wochen meinen kommenden 11 Reisetagen entgegen. Erstes Ziel: Bordeaux. Bei der Straßenbahnhaltestelle wurde ich sofort von meinen drei deutschen EFD-Freunden Sarah, Daniel und Jan begrüßt, in deren Zimmer im Studentenwohnheim ich auch untergebracht wurde. Da es in Bordeaux ein riesengroßes EFD-Projekt mit 30 europäischen Freiwilligen und 30 französischen Zivis gibt, ist an den Abenden auch dementsprechend was los und so gab es gleich mal eine willkommen heißende Donnerstags-soirée. Am Freitag begaben sich Sarah und ich gemeinsam mit Lea und Lukas, zwei weiteren deutschen Freiwilligen, auf Entdeckungstour in die Innenstadt, sahen einige Sehenswürdigkeiten und genossen den ziemlich genialen verregneten Blick auf

Bordeaux vom Turm Pey-Berland (Glockenturm abseits der Kathedrale, um diese vor den Vibrationen zu schützen) aus. Um den kühlen, windigen Regenschauern zu entgehen, besuchte ich am Samstag das Musée d’Aquitaine und setzte mich danach bei strahlendem Sonnenschein auf eine Parkbank in der Innenstadt um, ja, um was denn zu tun? Um die Zeit vergehen zu lassen (da ich auf den Zimmerschlüssel warten musste) und um Leute zu beobachten. Und das war wirklich eine tolle Beschäftigung! Denn am Samstagabend fand ein großer Marathon statt. Ab spätem Nachmittag entwickelte sich eine allgemeine Spannung in der Stadt. Immer mehr Menschen hatten Laufkleidung an. Liefen Aufwärmrunden im Park. Sprangen umher. Ließen sich fotografieren. Wünschten sich gegenseitig viel Erfolg. Studierten die Laufroute. Checkten ihre Startnummern. Fotografierten sich gegenseitig. Mir wurde also wirklich nicht langweilig. Im Laufe des Abends erblickte ich noch viele erschöpfte, siegessichere, verzweifelte, fröhliche, ermutigende, zusammenhelfende Gesichter und erfreute mich am Getrommel der Sambagruppen. Den Sonntag verbrachte ich sehr gemütlich mit Messe, Spaziergang und Lesen am Fluss, Quatschen mit meiner Zimmerkollegin Maia und einem Abend mit Roxi (Rumänien) und Juan-Pablo (Spanien). Da entschieden Juan-Pablo und ich auch, gemeinsam am nächsten Tag zur Dune du Pilat zu fahren.

 

„Guten Tag. Fahren Sie nach Arcachon?“

„Nein.“

„Wir wollen nach Arcachon. Fahren Sie dort hin?“

„Nein. Aber steigt ein.“

„Aber wir wollen nach Arcachon. Wir finden jemanden anderen. Danke.“

„Nein. Steigt ein.“

 

Wir stiegen ein. Eigentlich komisch, wenn ich im Nachhinein darüber nachdenke. Aber vielleicht war es einfach Bauchgefühl.

 

„Wo liegt Arcachon?“

„Am Meer.“

„Wie weit ist das weg?“

„50 km etwa.“

„Wie lange fährt man für 50 km?“

„Ähm. Eine halbe Stunde. Oder eine Stunde.“

„Okay.“

„Madame, wir wollen nach Arcachon. Das ist nicht Ihre Richtung. Ich glaube, es ist besser, Sie lassen uns bei der nächsten Abfahrt aussteigen und wir warten auf jemand anderen.“

„Okay.“

 

Sie fuhr ab. Im Kreisverkehr schaltete sie die Warnblinkanlage ein und suchte den Weg nach Arcachon im Navi. Doch das brauchte Zeit zu laden. Ich erklärte ihr, sie könne uns hier gut aussteigen lassen und einfach ohne uns zurückfahren. Sie fuhr zurück. Mit uns. Richtung Bordeaux. Ich war verwirrt. Juan-Pablo war verwirrt. Sie war verwirrt. Das Navi erklärte, dass

wir umdrehen müssen. Sie drehte bei der nächsten Ausfahrt wieder um. Ich verstand die

Welt nicht mehr. Was soll das? Panik hatte ich keine, ich machte mir keine verängstigten Gedanken, erst im Nachhinein wurde mir die Absurdität dieser Situation klar.

 

„Wie heißt ihr?“

„Monika und Juan-Pablo. Und Sie?“

„Monlay. Wir sind jetzt gute Freunde.“

 

Und plötzlich wurde mir klar, was gerade geschah: Monlay BRACHTE uns nach Arcachon. Sie musste in die andere Richtung. Sie kannte Arcachon nicht. Sie hatte eigentlich einen Termin in einem Vorort von Bordeaux. Ihr jüngerer Bruder saß auch im Auto. Doch sie spielte Privattaxi für uns. Juan-Pablo und ich schauten uns an. Das ist aber grad nicht ihr ernst, oder!?

 

Wir verbrachten eine ziemlich kurzweilige einstündige Autofahrt gemeinsam, bis wir schließlich am Parkplatz der Dune du Pilat ausstiegen. Natürlich hatte ich sie gefragt, warum sie dies für uns tue. Sie sei vor drei Jahren aus Haiti nach Frankreich gekommen. Hatte kein Geld, kein Haus, kein Auto. Aber eine dreijährige Tochter. Monlay fand Arbeit; jetzt hat sie Geld, eine Wohnung und ein Auto. Deswegen möchte sie uns nun helfen. Die wir kein Auto

haben. Sie lud uns übrigens ein nach Bordeaux, Haiti und Guadeloupe. Meinte, ihre Familie wäre sicher sehr erfreut, uns Amerikaner kennen zu lernen. Amerikaner? Ihr sprecht Englisch. Für sie seid ihr alle gleich! Wir luden sie ein nach Argentinien, Spanien, Deutschland und Österreich.

 

Wir waren baff. Und glücklich. Zufrieden. Noch des Öfteren an dem Tag sollte diese Story und ihre Hintergründe unser Gesprächsstoff werden. Nicht nur einmal stießen wir ein „It’s just not true, is it!?“ aus. Und bei der Rückfahrt nach Bordeaux im Zug wurde uns gemeinschaftlich klar, der Blogeintrag über diesen Tag müsse „There is hope in this world“ heißen.

 

Dienstags traf ich Liva in Angoulême und wir machten 3 Stunden lang die übrigens wunderschöne Stadt unsicher. Von Dienstagabend bis Freitag hatte ich gemeinsam mit 16 anderen EFDlern mein mid-term training in Chambon, einem minifuzzikleinen Örtchen nahe Angoulême. Wir besuchten und hielten Workshops über unsere Projekte, Erfahrungen, Wünsche, Träume, Schwierigkeiten und Zukunftspläne. Veranstalteten einen ziemlich genialen, durchgeknallten Tanzabend. Genossen die duftende Luft nach dem Regen. Lernten theoretischen Lernstoff auf völlig verspielte und praktische Weise. Tauschten uns über unsere Heimatländer aus und luden uns gegenseitig nach ganz Europa ein. Obwohl wir nur knappe drei Tage miteinander verbrachten, entwickelte sich eine echt tolle Gruppengemeinschaft und der Inhalt war um einiges tiefer als der des on-arrival Seminars. Danke an die anderen EFDler und an die Leiterinnen Estelle, Hélène und Annalisa! :-)

 

PARIS! Tja, ich traute es mich ja schon gar nicht mehr zusagen, aber es stimmte einfach: Ich war noch nie in Paris! Doch jetzt ist das Geschichte! Ich hab nicht nur ein Foto mit dem Eiffelturm, sondern ungefähr 10. Ich sah die Sorbonne, erblickte Voltaires, Zolas und Marie Curies Gräber im sehr beeindruckend gewaltigen Pantheon, erfreute mich an kleinen Segelbooten im Brunnen des jardin du Luxembourg, suchte die deutsche und österreichische Version von „je t’aime“ auf der mur des je t’aime, bestieg den Montmartre und genoss vor den Säulen der sacre coeur den Blick über die Stadt, sah das Café des 2 Moulins und das Moulin Rouge, zwängte mich auf gefühlte 3 cm² in der Métro, weiß nun schon im Vorhinein, dass 5 Mini-Eiffeltürmchen 1€ kosten, spazierte der Seine entlang, winkte auf hölzernen Liegestühlen am Seineufer den Touristen auf den Bateaux Mouches zu, zählte die Touristen im jardin des Tulleries nicht, betrachtete die Besucher des Louvre durch das Glas der Pyramide, erkundete die verschiedensten Stile moderner Kunst im Rivoli 59, wartete vorm Hôtel de Ville auf Azra und Katrin, welche ihre Startnummern für den Color-run am Sonntag abholten, staunte nicht schlecht über den detaillierten Torbogen der Notre Dame, schlief auf einer quietschenden Luftmatratze, sah den Sonnenuntergang über Paris, fuhr mit dem RER nach Versailles, ließ meinen Rucksack durch den Röntgenapparat laufen, kam zu dem Entschluss, dass sich Versailles und Schönbrunn ziemlich ähneln, warf leider nur einen ganz kurzen Blick aus der Ferne auf die Gärten von Versailles, aß einen Falafel-Sandwich am Markt, war mit jedem Umsteigen in der Métro ein wenig zielgerichteter unterwegs, wusste am Bahnhof St Lazare, wo die Fernzüge in die Normandie losfuhren, lauschte einem hochkarätigen spontanen Klavierkonzert am Bahnhof und fand zu guter Letzt doch noch einen freien Sitzplatz im geschätzten 4 km langen Zug. Wie lange warst du in Paris, Monika? Ähm, zwei Tage!? Im Zug war ich übrigens überhaupt nicht müde.

 

Diese kurze aber sehr intensive Reise zeigte einmal mehr, dass es doch so schön ist, mit Menschen aus verschiedenen Ländern und Kulturen Zeit zu verbringen. Alle meine Erlebnisse und Begegnungen mit den Leuten aus Deutschland, Rumänien, Italien, der Slowakei, der Republik Tschechien, Lettland, Litauen, Österreich, Dänemark, Polen, Russland, der Ukraine, Spanien, Argentinien, Haiti, der Türkei, Frankreich und Jordanien waren so wunderbar friedlich, fröhlich und freund(schaft)lich und öffneten mir einmal mehr wieder viele neue Eintrittstüren in ganz Europa und sogar darüber hinaus.

 

Gratulation, falls du bis hier her gelesen hast, darfst du wirklich stolz auf dich sein! Freu dich, spring drei Mal in die Luft und dreh dich dann wie ein Windrad mit ausgestreckten Armen im Kreis. Sag dir vor: There is hope in this world. Und lächle dann der nächsten Person zu, die du siehst. Weil das brauchen wir. Ein bisschen mehr Fröhlichkeit und Verrücktheit. Stell dir vor, das würde jeder kleine Mensch so machen! ;-)

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