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63. Der letzte Tag ODER Von einem leeren Büro, traurigen Abschiedsworten, guten Wünschen, dem letzten Schritt aus der Tür, einem Abschiedsdrink, einem Festessen

 

Es gibt so einen gewissen Moment, ab dem dir alles zu viel wird, der das Fass zum Überlaufen bringt. Babys fangen da zu schreien an und dann hilft nichts mehr, kein Brei, kein Flascherl, keine Gutenachtgeschichte, kein Spielzeug, kein Ablenken, irgendwann vielleicht grad noch die Kuscheldecke und die Mama. Diesen Moment hab ich selten, oder vielleicht noch nie so bewusst, so drastisch gespürt wie an diesem letzten Arbeitstag in Caen.

 

Um 8:45 hätte die Putzfrau kommen sollen, um mein geputztes Zimmer zu kontrollieren, doch sie tauchte nie auf; abends fand ich dann die Inventarliste mit lauter Häkchen in meinem Zimmer, na dann… Im CRIJ hatte ich nicht mehr viel zu tun, außer Emails und persönliche Dateien zu sichern und zu löschen. Der Schreibtisch war leer und trostlos und bei jeder Handbewegung dachte ich mir, das würde die letzte dieser Art gewesen sein. Während der Mittagspause versuchte ich, Glasrahmen für meine beiden Urkunden [später mehr dazu] zu besorgen, doch als ich auch im vierten Geschäft nur auf andere Geschäfte verwiesen wurde, erklärte ich die Suche für offiziell vergeblich. Im Laufe des Nachmittags verabschiedeten sich der Reihe nach meine Kollegen von mir, freuten sich übers Wochenende oder den Urlaub, bis dann um 17Uhr nur mehr eine kleine Gruppe übrig war. Nach einem letzten Blick in die verschiedenen Räume waren sie es, die mir bei meinem letzten Schritt aus der Tür des CRIJ, begleitet von einem tiefen Seufzer, wortwörtlich zur Seite gestanden haben. Weit mussten wir dann auch nicht gehen, sondern einfach nur über die Straße in die Bar gegenüber, wo wir ein letztes Mal zusammensaßen und in Erinnerungen der letzten zehn Monate schwelgten. Auch hier verabschiedeten sich wieder so viele tolle Leute von mir und meine Tränendrüsen hatten wieder was zu tun.

 

Kaum aus der Bar herausgekommen, rief mich Julia an. Seit Monaten hatte sie mir versprochen, mich am Ende meines EFDs in Caen abzuholen um den Heimweg gemeinsam im Campingbus zu fahren. Ihre Ankunft war ausgemacht für Samstag, doch nun sei sie unerwartet doch schon heute in Caen angekommen. Es gehe ihr gut, doch unser Auto hätte ein Loch im Kühler und müsse in eine Werkstatt. Aha. Stopp. Bitte alles nochmal rückgängig! Ich habe mich soeben erst vom CRIJ und meinen Kollegen verabschiedet, meine Gedanken hab ich grad nicht mehr ganz unter Kontrolle, mir steht noch ein feines Essen bevor, obwohl ich eigentlich ja gar keinen Hunger habe, Julia ist schon in Caen obwohl sie erst morgen kommen wollte und unser Auto ist nicht mehr fahrtüchtig und wir brauchen eine Werkstatt. Puh, okay, alles gut, du schaffst das!

 

Mit Clémence und Maria saß ich bald darauf in einem kleinen aber feinen, recht angesehenen Restaurant in der Altstadt und erfreute mich eines duftenden Tomaten-Paprika-Gazpachos, einer Hühnerkeule mit Pastinakenpüree und einer luftigen Topfencrème mit roten Beeren. Wir plauderten über dies und das, doch ich konnte meine Augen schon kaum mehr offen halten und sehnte mich nach meinem Bett. Mir schwebte mein letzter Abend vor, an dem ich allein im Bett sitzen und die 10 Monate Revue passieren lassen würde, mit Tee in der Hand und dicken Socken und den letzten Vorbereitungen für die Abreise. Doch Pläne sind ja manchmal dazu da, um verworfen zu werden. So auch jetzt!

 

Schon von Weitem sah ich eine Person im Empfangsbüro des Campus stehen und mit dem Rezeptionisten plaudern. Konnte jeder sein, doch ich tippte sehr stark auf Julia, schließlich musste sie ja irgendwo da in der Gegend sein. Und wirklich: Bald schon hatte sie mich draußen in der Dunkelheit erspäht und lief auf mich zu. Gerade noch schaffte ich es, meine Tasche mit all den kleinen Geschenklein abzustellen, um Julia dann großzügig zu umarmen. Hmmm. Über ein Jahr lang hatten wir uns nicht gesehen, Julia war in Neuseeland gewesen, ich in Frankreich. Und nun war sie einfach hier. Hier, bei mir, in Caen! Ich konnte es nicht fassen. Freudig, müde, gespannt, erlöst lagen wir uns in den Armen.

 

Bevor wir es uns im Zimmer gemütlich machen würden, wollte Julia mir noch „unser“ Auto zeigen. Immerhin würden wir die nächsten paar Tage darin verbringen. Im Dunkel tasteten wir uns ans Auto heran, über finstere Wiesen auf einen abgelegenen Parkplatz der Uni, von dem ich nicht mal wusste, dass er existierte. Ganz vertraute ich Julia noch nicht, warum zum Teufel hatte sie das Auto dort geparkt, mitten in der Pampa? Aber eigentlich war mir schon alles egal. Ich wollte einen Blick ins Auto werfen, ins Zimmer gehen und gemütlich den Abend genießen und – schlafen. Tja, wäre ich allein gewesen, hätte das auch geklappt, aber jetzt überließ ich mich ganz meinem – von Julia gesteuerten – Schicksal. Unbekümmert öffnete ich die Schiebetür des Wagens, traute meinen Augen nicht, schrie, lief davon und versteckte mich im Gebüsch.

 

Nein, im Auto war keine Tarantel, keine Schlange und keine Leiche. Im Auto saßen Katrin und Livia, drehten Musik auf, bliesen mir Luftschlangen entgegen und versuchten, alles zu filmen. Die Situation überforderte mich. Julia war doch allein gekommen, Katrin war im Urlaub und mit Livia hatte ich schon seit längerer Zeit keinen Kontakt mehr gehabt. Wir würden zu zweit heimfahren. Und alles war geplant. Nur eben nicht von mir. Mir wurde der Großteil der Infos vorenthalten. Meine eh schon labile Gedankenwelt war in Bruchteilen einer Sekunde zerbrochen.

 

Während ich mich schluchzend, lachend und von allen Kräften verlassen in den herunterhängenden Ästen eines riesigen Baumes versteckte, kamen die drei Mädels zu mir her, hielten mich fest, versuchten, mir meine tränenverklebten Haarsträhnen aus dem Gesicht zu streichen, mich irgendwie aufrecht zu halten und meinen aktuellen Launezustand herauszufinden.

 

Letzteres würde ich jetzt im Nachhinein als das schwierigste Element einstufen. Ich lachte. Ich weinte. Ich war völlig aufgedreht. Ich wollte schlafen. Ich freute mich auf die Reise. Ich wollte in Frankreich bleiben. Ich hatte Durst. Ich hatte einen vollen Magen vom Abendessen. Ich wollte etwas sagen. Ich fand keine Worte. Ich klammerte mich in den Zweigen fest. Ich ließ mich komplett fallen und spürte den Boden unter den Füßen nicht mehr. Ich war stark. Ich war schwach. Ich war froh, meine Freundinnen bei mir zu haben. Ich wollte allein sein.

 

Bald darauf saß ich bei den Mädls im Auto, bekam ein Sektglas in die Hand gedrückt und DEN Song der Reise vorgespielt. An das Gespräch erinnere ich mich nicht mehr, allerdings wurde ich aber über den brenzligen Gesundheitszustand des Wagens aufgeklärt, er hatte nämlich tatsächlich ein Loch im Kühler, das schnellstmöglich repariert werden musste. Ehrgeizig und entschlossen, hatten die Mädls auch schon eine Liste von Autowerkstätten in der Umgebung ausgedruckt bekommen, die mussten also durchgerufen werden. Es war Freitag spätabends. Vor Montag hatten wir also gar keine Chancen auf ein repariertes Auto, und die meisten Werkstätten mussten das Ersatzteil sowieso bestellen und sagten uns Reparaturen bis Mittwoch oder Donnerstag zu. Äh. Oh. Wir wollten eigentlich so schnell wie möglich aufbrechen. Aber gut, das konnten wir jetzt alles nur sehr wenig beeinflussen.

 

Ich telefonierte am nächsten Morgen jedenfalls stundenlang, kannte mich bald perfekt aus, wenn es darum ging, Details aus dem Fahrzeugschein auf Französisch durchzugeben und ließ mich nicht so schnell von unfreundlichen Mechanikern abwimmeln. In dieser Situation war es auch echt praktisch, die autohauserfahrene Julia dabeizuhaben, denn des Öfteren sagte sie mir, was und wie das nun zu machen war. Kurzum: Zu viert waren wir ein tolles Team – und das sollte für die darauffolgenden Tage auch so bleiben!