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Die Apfelernte

„Nein, heut Abend werd ich nicht zur Party kommen, weil ich morgen in der Früh mit meiner Gastfamilie Äpfel pflücken fahre!“ – Verdutzte Gesichter schauen mich mit großen Augen an. Gastfamilie, Äpfel pflücken, in der Früh, sag mal, bist du verrückt? Ja, wahrscheinlich bin ich etwas verrückt, aber ich bin stolz drauf. Schließlich ist es ja doch eine etwas ungewöhnliche Aktion für eine Erasmusstudentin.

 

Zeitig in der Früh machten wir uns am Samstag also auf nach Elektrenai, wo Gretas Mann Frederik in einem Haus mit großem Garten lebt. Klingt elektrisch? Ist es auch! Elektrenai verdankt seinen Namen nämlich einem Kraftwerk, das 1961 gebaut wurde. Für den Bau des Kraftwerks wurden acht naturbelassene Seen zu einem riesengroßen See aufgestaut, viele Inseln wurden überschwemmt und einige Dörfer wurden abgesiedelt. Am Rande des neuen Stausees entstand eine riesige Plattenbausiedlung, in der dann sowohl die abgesiedelten Personen als auch die Bauarbeitermit ihren Familien lebten. Diese Siedlung erhielt 1962 den Namen Elektrenai und hat heute über 13.000 Einwohner und Einwohnerinnen. Das Kraftwerk ist heute – nach der Schließung des Kernkraftwerkes in Ignalina 2009 – der größte Stromerzeuger Litauens.

 

Nun aber zurück zum eigentlichen Thema: den Äpfeln. Als wir im Garten ankamen, war die Wiese rot. An manchen Stellen auch gelb, aber großteils rot. Schnell ein Foto gemacht für den Vorher-Nachher-Vergleich und dann ging’s los. Jonas und ich hatten keine 10 Minuten gearbeitet, da waren alle unsere Gefäße schon voll. Also brachte uns Greta Plastiksäcke, Umzugskartons, eine Scheibtruhe, Jutesäcke und Körbe. Waren die Äpfel unter einem Baum aufgesammelt, kam der nächste dran, dann der nächste und der nächste. Da schaute die Wiese dann plötzlich wunderbar aus und wir freuten uns! Aber das war nur eine Zwischenfreude, denn sodann fingen wir an, die Bäume zu schütteln. Bumm bumm bumm bumm bumm aufsammeln bumm bumm bumm aufsammeln bumm bumm bumm aufsammeln. Pause. Greta hatte für leckere Mehlspeisen gesorgt, die wir genüsslich verspeisten. Dann ging’s weiter. Bumm bumm bumm aufsammeln. Das Ergebnis unseres aktiven Vormittages waren etliche prallgefüllte Säcke, Kisten und Körbe. Wir gaben eine Schätzung ab, wie schwer die Äpfel wohl sein mögen. Jonas meinte 179kg, ich sagte 211kg. Leider haben wir das genaue Gewicht nicht erfahren, aber da wir jetzt über 200l Apfelsaft haben und nicht mal alle Äpfel gepresst wurden, lag ich zumindest näher am unterschätzen Gesamtgewicht.

 

Gretas  Ehemann Frederik ist Deutscher, lebt aber seit über 10 Jahren in Litauen. Er ist Schriftsteller und genießt das ruhige Leben abseits der großen Stadt. Aber er genoss es am Samstag auch, mit mir mal wieder Deutsch sprechen zu können. Zwar beschäftigt er sich berufsbedingt sehr ausführlich mit der deutschen Sprache, aber hin und wieder tut es schon auch gut, sich mal mündlich in der Muttersprache unterhalten zu können. So erzählte er mir von seinem Leben als Buchautor, zeigte mir seine Bibliothek (und bedauerte, auf Grund diverser Umzüge den Großteil seiner Bücher hergegeben zu haben) und gab mir Einblicke in seine abgeschlossenen und geplanten Werke. Diese reichen von Biographien über Erzählungen bis zu historischen Romanen. An einem Buch, das in nächster Zeit erscheinen wird, arbeitet er seit über neun Jahren! Er führte dafür nämlich detaillierte Recherchen über eine bestimmte adelige Familie durch und stieß immer wieder auf kontroverse Angaben, die seine Recherchefortschritte verlangsamten oder die Ergebnisse in eine andere Richtung lenkten. Dann kontaktierte er diverse Geschichtsprofessoren und diskutierte mit ihnen seine Entdeckungen. Wäre er Historiker, so könnte er dieses Buch wohl als Dissertation einreichen, meinte er. Damit mag er nicht Unrecht haben.