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Und warum genau Ignalina?

Als ich Greta erzählte, dass ich nach Ignalina fahren würde, schaute sie mich mit großen Augen an. Aha, und warum genau Ignalina? Ich erzählte ihr, wie es dazu gekommen war und sie war kurzzeitig etwas baff. Am Donnerstag in Ignalina angekommen, trafen wir unseren host und was war die erste Frage: Okay girls, and why actually did you come here? Und als ich beim World Cleanup Day am Samstag (im nächsten Artikel mehr dazu) erwähnte, gerade zwei Tage in Ignalina verbracht zu haben, drehten sich mehrere müllsammelnde Leute gespannt zu mir um.

 

Okay, ich kann das erklären! Am Donnerstag und Freitag fanden meine Kurse nicht statt und ich wollte raus aus der Stadt, rein ins Grün. Also hab ich die Homepage der litauischen Eisenbahn geöffnet und gesehen, dass Ignalina eine beliebte Destination ist. Die Fahrt dauert 1h40min und für Studierende kosten die Tickets €2,20. Ideal! Der nächste Schritt war die Unterkunft. Ein kurzer Blick auf Couchsurfing und ja, es gibt tatsächlich 2 aktive hosts dort. Zwar nicht ideal, aber einen Versuch wert! Ich fragte Patricija, eine Erasmus-Studentin aus Slowenien, die ich in einem Geo-Kurs kennengelernt hatte, ob sie mitkommen wollte, und tatsächlich war sie im gleichen Moment dabei, ihre kommenden freien Tage zu planen und sagte sofort zu. Eindeutig ideal! Von den beiden Couchsurfing hosts, die ich am Dienstagabend angefragt hatte, sagte mir einer am Mittwoch in der Früh zu und einer zu Mittag ab. Wieder ideal! Also irgendwie sollte dieser spontane Trip einfach sein!

 

Die Zugfahrt war eintönig und beeindruckend. Was wir sahen, waren Bäume. Links und rechts von den Gleisen. Hin und wieder ein Stop in einer Haltestelle. Manchmal bediente eine Haltestelle ein paar Holzhäuser; und eine Haltestelle befand sie sich inmitten des Waldes und nur ein schmaler Fußpfad führte direkt in den Wald hinein. Es stieg sogar ein Mann aus: mit Gummistiefeln an den Füßen, Plastikkübel in der Hand und Angel über der Schulter.  Als wir in Ignalina aus dem Zug stiegen, verstanden wir, warum alle Leute so verwundert waren: Ignalina besteht aus alten, halb verfallenen Häuschen und teils heruntergekommenen, teils renovierten Wohnblocks. Gegenüber dem Bahnhof befindet sich ein Busbahnhof mit über 10 Bussteigen, allerdings war kein einziger Bus in Sicht. Die Straßen in Ignalina waren leer, hunderte Äpfel lagen unter den knorrigen Apfelbäumen. Wir packten zwei davon als Proviant ein. Ein paar Schritte weiter entdeckten wir eine moderne Kirche, doch als wir sie betreten wollten, war die Tür versperrt. Wir folgten den grauen Straßen in Richtung der Adresse unseres Gastgebers, als uns zwei alte Damen langsamen, wackeligen Schrittes entgegenkamen. Wir stellten uns sodann vor, dass der Altersdurchschnitt in diesem Dorf wohl recht hoch sein würde.

 

Da unser Gastgeber Justinas noch nicht von der Arbeit zurück war, spazierten wir etwas weiter und entdeckten am Ende der Straße einen See. Und da wurde uns augenblicklich bewusst, warum wir tatsächlich hier waren: die wunderschöne Natur! Die im Winde wankenden Bäume spiegelten sich im glasklaren Wasser, braune Blätter schwammen wie kleine Boote umher. Eine hölzerne Brücke führte uns auf eine kleine Insel im See, am anderen Ufer ging der Weg im herbstlichen Wald weiter. Ein paar Minuten lang spazierten wir am weichen Pfad entlang des Sees, dann setzten wir uns in einer sandigen Bucht auf eine Bank. Alles war still um uns herum, nur ein paar Vögel kommunizierten zwitschernd in den Bäumen. Hin und wieder sprang ein Fisch aus dem Wasser, ein dumpfes „Plopp“ war zu hören und konzentrische Wellen trieben auseinander. Die Sonnenstrahlen waren noch angenehm warm glitzerten auf der Wasseroberfläche.

 

Nach einiger Zeit rief Justinas an und wir trafen ihn in seiner Wohnung. Weil wir alle hungrig waren, machten wir uns gleich auf zu einem Restaurant am Seeufer. Also ganz ausgestorben ist Ignalina ja doch nicht. Auf der Speisekarte fanden wir viele litauische Gerichte, die alle großteils aus Kartoffeln und Fleisch bestehen. Patricija entschied sich auch wirklich für Kartoffelpuffer mit der obligatorischen Grietine, ich bestellte käseüberbackene Spinatpalatschinken und Justinas Gericht wäre wahrscheinlich auch als nicht ganz originales Wiener Schnitzel durchgegangen. Sodann interviewten wir Justinas, was wir hier am nächsten Tag denn nun wirklich tun könnten. In Ignalina gäbe es einen Aussichtsturm, da könnten wir hochgehen. 40km von Ignalina entfernt stehe ein Kernkraftwerk, das 2009 außer Betrieb genommen wurde (als Bedingung, dass Litauen in die EU durfte) und das mit Führung besichtigt werden könne. Dafür hätten wir allerdings ein Auto gebraucht. Und dann gäb‘s da noch Paluse. Das sei ein kleiner hübscher Ort, 5km entfernt und zu Fuß erreichbar. Von dort aus starte ein kurzer Rundweg durch den Nationalpark. Wir entschieden uns also für Letzteres und sollten am nächsten Tag auch wirklich nicht enttäuscht werden!

 

Angesichts des auf uns so leer wirkenden Ortes hatten wir einige Fragen an Justinas. Wer lebt hier? Was arbeiten diese Leute? Kennen sich die Nachbarn untereinander? Wie viel Miete zahlst du? Was tut man hier am Wochenende? Gibt es Veranstaltungen und Feste? Gehen die Leute in die Kirche? Warum bist du bei Couchsurfing angemeldet? Justinas Antworten stimmten uns nachdenklich. Die Arbeitslosigkeit in Ignalina sei überdurchschnittlich hoch, es lebten kaum junge Menschen im Ort und Veranstaltungen gäbe es äußerst selten. Wie ganz Litauen verzeichne auch Ignalina eine sehr hohe Emigrationsrate. Justinas, der als etwa 25-jähriger, studierter Mann hier einen Job als Sales Manager in einer Firma angeboten und angenommen hat, ist also ein ziemlich außergewöhnlicher Fall. Die Frage, ob er seine Nachbarn kenne und ob es ein Gemeinschaftsgefühl im Haus oder Ort gebe, fand Justinas etwas komisch. Ob das denn bei uns in Slowenien und Österreich so sei? Als wir von unseren Erfahrungen erzählten, schüttelte er nur den Kopf und meinte, dass wohl noch viel Einfluss aus der sowjetischen Zeit des Landes bestehe. Mit den Nachbarn sei man nicht in Kontakt, man grüße sich nicht wirklich und jeder gehe seine eigenen Wege. Diese Tatsache hatten wir in Vilnius auch schon des Öfteren selbst miterlebt. Schließlich sprach ich ihn darauf an, warum er denn schon mehrere Leute als Couchsurfing-Gastgeber aufgenommen, aber selbst noch nie bei jemandem übernachtet habe. Für ihn sei Couchsurfing eine schöne Gelegenheit, aufgeschlossene, junge Menschen kennenzulernen und manchmal auch unter der Woche Besuch zu bekommen, also ein kurzes Ausbrechen aus dem Hier-tut-sich-nichts. Dies fand ich irgendwie einleuchtend, gleichzeitig trist und beeindruckend. Dass er gern gegen den Strom schwimme, hat er auch erwähnt, und das tut er in Ignalina wirklich!

 

Da Justinas in die Arbeit musste, waren wir zeitig morgens aufgebrochen und hatten geplant, in Paluse zu frühstücken. Dies stellte sich allerdings schwieriger dar als gedacht, denn wir hatten kaum Proviant eingepackt und in dem verschlafenen Dörfchen war zunächst weit und breit kein Mensch und schon gar kein Geschäft zu finden. Äpfel gab es hingegen zur Genüge! Wir schlenderten die Straße entlang, fanden einen Campingplatz und siehe da, in der Ferne stieg ein Mann aus einem Auto aus und ging in ein kleines Gebäude am Straßenrand. Es war zwar kein Schild zu erkennen, dass einen Supermarkt anzeigen würde, aber das Gebäude stellte sich sodann doch wirklich als kleiner Laden heraus. Das Angebot war allerdings sehr bescheiden: Es gab trockene Kekse, einen Marmorkuchen, viele Schokoladentafeln, Buchweizen und Mehl, Putzschwämme und Duschgel, Chips, Softdrinks und jede Menge Alkohol. Bei der Kasse stand dann noch eine Kaffeemaschine. Wir entschieden uns für den Marmorkuchen als Frühstück und der Verkäuferin huschte ein verstohlenes Lächeln übers Gesicht, als wir uns in gebrochenem Litauisch bedankten und verabschiedeten. Unser Frühstück war bescheiden, doch da wir hungrig waren und die Sonne schien, war es umso leckerer!

 

 

Vom Marmorkuchen gesättigt machten wir uns auf in den Wald und kamen aus dem freudigen, entspannten Staunen gar nicht mehr raus. Die vielzähligen glasklaren Seen, das frische Grün am moosigen Waldboden, die Sonnenstrahlen, die durch die Baumwipfel drangen, das Vogelgezwitscher und die Pilze in diversen Farben und Formen ließen uns die kleine Wanderung durchwegs genießen. Auf einem Steg inmitten eines Moores hielten wir Rast und ich schlief ziemlich schnell ein. Wieder aufgewacht, entdeckten wir eine riesige Spinne im Schilf und durch eine gebrochene Holzlatte des Steges beobachtete ich eine langsame Wasserschnecke, bis sie schließlich verschwand. Es war ein schönes Gefühl, den Stadttrubel eine Zeitlang verlassen zu haben und jetzt eine Schnecke im Wasser zu beobachten! Dass der nächste Zug nach Vilnius erst in vier Stunden fuhr, störte uns in diesem Moment gar nicht und wir genossen die herbstliche Stimmung einfach noch länger, bevor wir wieder aufbrachen.