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Kulturelles!?

Nun bin ich schon fast zwei Monate in Litauen. Fast ein Fünftel meines Erasmus-Aufenthaltes liegt hinter mir. Und? Was habe ich gelernt, erlebt, entdeckt, herausgefunden? Welche (kulturellen) Unterschiede zwischen Österreich und Litauen sind mir aufgefallen? Welche Erwartungen hatte ich, und haben sie sich erfüllt? Diese Fragen sind nicht leicht zu beantworten. Aber ich möchte in diesem Beitrag einen kleinen Einblick geben in so manche (kulturellen?) Begebenheiten, die mir momentan in den Sinn kommen. Und vielleicht wird die Liste in den nächsten Monaten ja noch ausgebaut. Alle meine Ausführungen beruhen auf meinem persönlichen Bauchgefühl und sind daher vollkommen subjektiv. Also bitte keinen Kurzschluss ziehen: Aha, so sind die LitauerInnen also! ;-)

 

Erwartungen

 

Letztens wurde ich von litauischen jungen Menschen gefragt, welche Erwartungen ich hatte, bevor ich nach Litauen gekommen bin. Tja, gute Frage! Leider kann ich mich nicht mehr genau erinnern, und im Vorhinein meiner Reise habe ich nichts aufgeschrieben. Also dass es in Litauen kalt sei, das hab ich mir gedacht. Dass es ein Land im Wandel und Aufbruch ist, eine junge Demokratie, ein Melting-Pot zwischen Westen und Osten, zwischen Geschichte und Zukunft. Ich hatte mir erwartet und erhofft, meine (wenn auch sehr bescheidenen) Russischkenntnisse anwenden und vielleicht sogar verbessern zu können – „vielleicht hilft mir Russisch ja, am Markt Karotten zu kaufen…“. A propos Markt: Ja, ich habe mir erwartet, am Markt einzukaufen. Zumindest Obst und Gemüse.

 

  • Bis jetzt haben wir in Litauen wunderbarstes Wetter. Zwei Monate lang Sonnenschein, warme Temperaturen, weiße Wölkchen am blauen Himmel. Ich bin gespannt auf die Winterzeit, aber bisher habe ich „vom Norden“ noch nichts gemerkt.
  • Die Erwartung, dass Litauen ein Land im Wandel und Aufbruch sei, hat sich bestätigt. Die litauische Bevölkerung musste und muss erst lernen, in einer Demokratie zu leben, Entscheidungen mitzutragen und das Land mitzugestalten. Die Geschichte der letzten Jahrzehnte ist in den Denkweisen und Handlungen (vor allem der älteren Generation) noch tief verankert. Aber ich habe das Gefühl, dass sich viele junge Leute von der neuesten Geschichte etwas distanzieren wollen – und lieber in die Zukunft blicken. Von den alten (Groß-)Fürsten und nationalen Helden erzählen aber auch die Jungen gern.
  • Russisch, naja… Da gibt es eine klare Altersgrenze in der Gesellschaft. Junge Leute sprechen Englisch. Und das oft fließend und ohne Akzent. Englisch öffnet ihnen eine neue Welt, außerhalb der Grenzen des kleinen Litauen mit 2 Millionen EinwohnerInnen. Mit Russisch wollen sie oft gar nichts zu tun haben und können nicht mal die kyrillische Schrift lesen. Ab einem gewissen Alter können aber alle Leute perfekt Russisch, weil sie das zur Zeit der sowjetischen Besatzung lernen und sprechen mussten. Wenn ich von einer alten Dame, die vor einem Geschäft sitzt, Zwetschgen kaufe, dann hilft mir mein Russisch also doch ein bisschen.
  • Als ich letztens mit meiner Mama telefonierte und ihr verkündete, dass ich mir eine neue Regenjacke kaufen würde, fragte sie: „Gibt’s die denn da oben?“ – „Mama, ich bin in der EU! Die haben da H&M, Deichmann, Lidl und SportsDirect!“ Ja, also die Ketten und Supermärkte sind hier genauso vertreten wie in Österreich. Und sie werden fleißig frequentiert. Einkaufen kann man täglich, meist von 8-22 Uhr, sonntags von 9-22 Uhr. Es gibt zwar ein paar große Märkte, und da kaufen auch Leute ein, aber die normalen Tageseinkäufe werden meist in den Supermärkten (oder online) getätigt. Meine Regenjacke hab ich also problemlos bekommen!

Die Sache mit dem Nicht-Lächeln und dem Nicht-Begrüßen

 

„Hi Monika! I am Grita!“ Meine frischgebackene Gastmama öffnete mir die Tür und begrüßte mich. Kurz und trocken, ohne zu lächeln. Mir fiel fast die Kinnlade runter. Was ist denn hier passiert? Ich war so weit angereist, strahlte diese Frau mit meinem breitesten Lächeln an und freute mich, sie endlich kennenzulernen. Doch sie streckte mir nur die Hand entgegen und ließ mich ins Haus. Ich war verwirrt. Hatte ich sie verärgert? Gab es ein Missverständnis und ich hätte zu einem anderen Zeitpunkt ankommen sollen? Aber wir hatten doch so nett miteinander kommuniziert!?

 

Inzwischen bin ich schlauer geworden. Nein, es gab definitiv kein Missverständnis, keinen Ärger und keine Kommunikationsprobleme. Es war nur ein kleiner Kulturschock. Denn in Litauen lächelt man fremde Menschen prinzipiell nicht an. Nicht auf der Straße, und auch nicht im Geschäft. Direkter Augenkontakt wird gerne vermieden und fremde Menschen werden nicht gegrüßt. Selbst die Nachbarn kennen und begrüßen sich nicht. Diese Verhaltensweise käme noch aus der sowjetischen Zeit, wurde mir erklärt, denn da sei man nie sicher gewesen, ob der Nachbar vielleicht ein KGB-Agent wäre und ein falsches Wort zu großem Unglück führe.

 

An das Nicht-Anlächeln in der Straße hab ich mich inzwischen, nach zwei Monaten, gewöhnt. Ich gebe die Hoffnung zwar nicht auf und lächle fleißig, aber ich erwarte mir keine Gegenleistung. Das Nicht-Anlächeln im Geschäft ist allerdings schwerer zu verdauen. In meinen Augen wirken die Verkäuferinnen nämlich gänzlich bedrückt, unmotiviert und unfreundlich. Zwar begrüßen sie mich als Kundin mit einem genuschelten Laba diena, aber dabei sehen sie mich nicht an, und lächeln schon gar nicht. Langsam und bedächtig ziehen sie ein Produkt nach dem anderen über die Kasse, dann wird kurz gefragt, wie ich bezahlen möchte. Ich sage kortele, bezahle und bekomme die Rechnung in die Hand gedrückt. Aciu und Geros dienos sage ich und zeige dabei mein schönstes Lächeln. Aber vergeblich, sie sehen mich ja sowieso nicht an.

 

Um allerdings in einem fröhlicheren Ton zu enden: Die junge Generation lächelt gern! Und begrüßt! Und umarmt! Und schmunzelt manchmal über „die Alten“!

 

Schwammerl sammeln und Beeren pflücken im Wald

 

Seitdem ich hier bin, wird mir eingeflößt, wie bedeutend der Wald für die litauische Bevölkerung ist: „We love picking mushrooms and berries in the forest!“ Zwar hatte ich selbst nicht das Vergnügen, beim Schwammerl sammeln dabei zu sein (weil meine Gastfamilie in diesem Sinne die absolute Ausnahme von der vermeintlichen Regel ist) aber ich habe vielzählige alte Damen vor den Geschäften sitzen und Schwammerl verkaufen sehen. Und im Wald hab ich auch viele Schwammerl entdeckt, die ich auf Grund meiner absoluten Schwammerl-Unkenntnis aber alle stehen gelassen hab. Dafür werd ich mich dann bei wärmerem Wetter beim Beeren pflücken revangieren!

 

Derzeit führe ich für eine Hausarbeit zum Thema „Lithuanians and the forest“ übrigens einige Interviews mit LitauerInnen durch. Und wirklich: Bisher haben fast alle das Schwammerl pflücken und Beeren sammeln als eine Aktivität im Wald erwähnt. Ich bin jedenfalls schon recht gespannt auf die ausgewerteten Ergebnisse!

 

Frauen und Männer

 

Nein, Frauen werden in Litauen nicht als schön anzusehende Lustobjekte abgestempelt. Ich persönlich habe hier noch keine negativen oder einschneidenden Erlebnisse gehabt und auch keinerlei bedenkenswerte Vorfälle zwischen Männern und Frauen mitbekommen. Auf ein paar klitzekleine Kleinigkeiten wird allerdings schon geachtet (und die Liste kann sicher noch erweitert werden): Männer halten Frauen die Tür auf und gewähren ihnen den Vortritt, Männer bezahlen für die Frauen und Männer bringen den Frauen des Öfteren Blumen mit. Klar, diese Gesten werden auch in anderen Ländern ausgeführt, aber nicht (mehr) so selbstverständlich wie hier in Litauen.

 

Und alle drei Situationen hab ich schon (mit meinem Gastbruder Jonas) erlebt:

- Jonas öffnet die Tür für mich und lässt mich zuerst durchgehen. Den Vortritt hab ich übrigens nicht nur in der Tür, sondern auch auf einem schmalen Weg im Wald oder beim Fahrradfahren.

- Eines nebeligen Sonntagabends haben wir mal beschlossen, Kebab essen zu gehen. Doch im Türrahmen drehte sich Jonas plötzlich um, schaute mich verzagt an und verkündete kleinlaut, dass er mich leider nicht einladen könne weil er grad ziemlich pleite sei. Obwohl die Situation für ihn offenbar peinlich war, musste ich kurz lachen, denn niemals hätte ich von ihm erwartet, dass er meinen Kebab für mich zahlen würde.

- Und schließlich waren da noch der Blumenstrauß zum Geburtstag. Zwar war es nicht das erste Mal, dass ich Blumen geschenkt bekommen hätte, aber ich fühlte mich schon recht edel, als Jonas dann im Restaurant höflich nach einer Vase fragte.

 

Mein Raum – dein Raum – unser Raum, oder: The Notion of Space

 

Es wäre mir bisher nicht als kultureller Unterschied aufgefallen; bisher waren es kleine Begebenheiten, denen ich kaum Bedeutung beigemessen hatte. Dann aber beschäftigten wir uns in einem Kurs über „Socio-Cultural Studies in the Lithuanian Context“ genauer mit dem berühmten Kultur-Eisberg-Modell. Ja, ich weiß, nichts Neues – aber es ist immer wieder spannend. Ein Punkt in den Tiefen des Eisberges war „the notion of space“. Zuerst haben wir es kommentarlos überlesen, dann aber kam mir plötzlich eine Alltagsszene aus dem Zusammenleben in meiner Gastfamilie in den Sinn:

 

Unsere Küche ist hier ziemlich eng bemessen. Es gibt eine kleine Arbeitsfläche, die Spüle ist völlig fehlplatziert in einer Ecke eingebaut, ein kleiner Tisch steht an der Wand und jeder Quadratzentimeter wird als Ablagefläche genutzt. Meiner Meinung nach ist es zu zweit in der Küche schon eng und wenn sich drei Leute gleichzeitig bewegen fühl ich mich fast schon unwohl. Denn ich brauche meinen Platz. Bevor ich zu kochen beginne, räume ich die Küche auf, wasche das Geschirr ab, stelle die Utensilien zurück an ihren Platz, wische den Tisch und die Arbeitsfläche und schaffe mir Raum. Bei meiner Gastmutter Grita ist das völlig anders: Sie nutzt einfach die 10 cm², die neben dem Herd und unter dem Kastl noch frei sind, legt dort das Schneidbrett ab und schnipselt fröhlich das Gemüse und das Fleisch. Auch beim Essen stört es sie nicht, ihren Teller auf ihrem zusammengeklappten Laptop abzustellen, der von Papierkram, Ladekabeln, Kaffeetassen, Katzenspielzeug und Augentropfen umgeben ist. Des Öfteren erzählt Grita von den Jahren, als in dieser Wohnung (in der wir nun zu dritt leben) ihre komplette Familie mit drei Generationen gelebt hat. Sie konnten niemals alle gleichzeitig essen, denn der Tisch war einfach zu klein. Aber auch mit sieben Menschen, einer engen Küche, einem kleinen Bad und einem Klo hat das Zusammenleben gut funktioniert!

 

Meine Dozentin schmunzelte über den Kommentar. Und wusste sofort eine Antwort drauf: kulturelle Unterschiede… Mein Beispiel sei kein Einzelfall, meinte sie, das Bedürfnis nach Raum sei tatsächlich verschieden stark ausgeprägt. Dann erwähnte sie eine Situation, die mir auch schon aufgefallen war: Der Abstand zwischen den Menschen in der Warteschlange vor der Kasse oder beim Sitzen im Bus ist geringer. Es ist nicht schlimm, die andere Person beim Sitzen oder Stehen am Arm zu berühren oder sich dich an jemandem vorbeizudrängen  - und viele LitauerInnen entschuldigen sich auch gar nicht, weil ja eh nix passiert ist. Wir plauderten in diesem Kurs noch weiter über das Thema Raum und kamen dann schließlich auf den hier noch weiter ausgeprägten Kollektivismus (im Gegensatz zum „westlichen Individualismus“) zu sprechen. Es sind kulturelle Eigenheiten, die bestimmt zumindest teilweise historisch bedingt sind.

 

 

Wie bereits einleitend erwähnt, sind die hier niedergeschriebenen Begebenheiten subjektiv und momentan. Ich bin sicher, dass mir in den nächsten Monaten noch so einiges auffallen wird und dann kann ich diesen Beitrag ja einfach noch erweitern!