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The Baptism

Seit meiner ersten Wanderung mit dem Hiking Club wurde mir immer wieder davon erzählt: the Baptism. Manche Leute meinten, es sei die beste Wanderung ihrer Hiking-Club-Karriere gewesen, andere bauten den Event reichlich mit Schauergeschichten aus und erfreuten sich an verdutzten Gesichtern der Neulinge. Je mehr ich davon hörte, desto weniger konkret konnte ich mir vorstellen, was die berühmt-berüchtigte Taufe denn nun sein sollte. Und ich glaube, diese gewisse Unsicherheit war genau das, was die Alteingesessenen erreichen wollten. Sozusagen eine Art Mutprobe, ein Ritual um ein echtes Mitglied des Hiking Clubs zu werden.

 

Letztes Wochenende war es dann soweit. Trotz meines höchst unpassenden Ganzkörpermuskelkaters, den ich mir beim Acroyoga zugezogen hatte, packte ich meinen Rucksack mit allerhand Wärmendem und Essbarem und machte mich in aller Herrgottsfrühe auf zum Bahnhof. Es ging, welch Überraschung, wieder mal nach Ignalina. Ignalina ist nun eindeutig die Destination, die ich nach Vilnius am öftesten besucht habe. Von dort aus wanderten wir um 9 Uhr 30 los und kamen abends nach 20 Uhr tiefgefroren bei unserer Hütte an. In der Zwischenzeit waren wir 30km gewandert, hatten zahlreiche Hügel bestiegen, Seen bestaunt, Mini-Ortschaften durchquert, viel geplaudert, uns am Lagerfeuer aufgetaut, Essen geteilt, einen Fernsehturm erklommen, uns verlaufen und einen alternativen Weg querfeldein gesucht und Aufwärmgymnastik gemacht. Schon am Nachmittag war es dunkel geworden, doch der glitzernde Schnee ließ die Umgebung nicht ganz so düster erscheinen. Nach einer schönen Wanderung durch Wälder, Wiesen und Felder wurden uns die letzten Kilometer dann leider noch zur Qual. Aus mir unerklärlichen Gründen schmerzten meine Knie fürchterlich und um zu unserem Häuschen zu kommen mussten wir noch einige Kilometer im Dunkeln einer Straße entlang wandern. Wir holten also – gut vorbereitet – unsere Reflektoren und Blinklichter raus, und trotzdem sprang die ganze Gruppe, wenn ein Auto vorbeikam, nach einem lauten Warnschrei in den Straßengraben. Die Autos flitzten nämlich nur so an uns vorbei, völlig überrascht von einer nächtlichen Wandergruppe, und spritzten auch reichlich braunen Schneegatsch durch die Gegend. Immer langsamer wurden wir, den einen war kalt, die anderen mussten aufs Klo, die nächsten hatten Hunger und Durst, und meine Knie schmerzten. Noch 8km hieß es, dann noch 4km, noch 2km, noch 400m, noch 100m – und dann irgendwann sahen wir die beleuchteten Fenster unserer Hütte und den Dampf des schon vorbereiteten Saunahauses. Was für ein Fest!

 

Ja, ein Fest war uns die Ankunft allerdings! Einige Mitglieder des Hiking Clubs waren nämlich nicht mit uns gewandert, sondern mit dem Auto zu unserer Unterkunft gefahren und hatten den Abend liebevoll vorbereitet: Nicht nur warm war es im Haus, es gab ein Klo und wir konnten unsere Schlafsäcke ausbreiten, nein, sogar eine dampfende Kartoffelsuppe stand schon am Tisch bereit! Schöpflöffel nach Schöpflöffel schlemmten wir und auch als wir uns unsere übervollen Bäuche rieben, war der riesige Topf noch mehr als halb voll. Zufrieden tauten wir auf und tankten frische Energie. Denn vorbei war der lange Tag noch nicht; jetzt ging es erst so richtig los, denn die Taufe, die Sauna, das Tanzen und Singen lagen noch vor uns.

 

Wir sollten nichts anziehen, was nicht nass und schmutzig werden dürfe, sagte man uns. Was darin resultierte, dass wir bald ohne Jacken vor der Tür standen und uns durch ausgiebiges Hüpfen und pinguinartiges Gruppenkuscheln dürftig wärmten. Sodann wurden wir alle durch ein langes Seil miteinander verbunden: durch den linken Ärmel durch und unterm Bauch wieder raus. Es gab also kein Entkommen mehr. Und die letzten vier starken Männer bekamen die Aufgabe, einen Baumstamm zu tragen. Na halleluja, was das wohl werden solle? Kurz bevor wir komplett eingefroren waren, ging es dann los, und ich glaube, das Adrenalin hat uns in den nächsten Minuten ziemlich geholfen. Wir mussten nämlich alle aneinandergebunden durch den Wald laufen. Runter die Böschung, über das Seil, durch die Büsche, unterm Seil durch, durch den Matsch, die rutschige Böschung wieder hoch, abermals durch ein Labyrinth aus Seilen und Büschen. Rutschte einer aus, fielen mehrere, und wenn unsere vier Baumstammschlepper nicht mitkamen, dann waren wir dem gespannten Seil völlig ausgeliefert und mussten versuchen, bestmöglich unsere eigene Balance zu halten. Nach einem kurzen Bärentanz durften wir uns dann aus der Verbindung lösen, denn wir waren vor der finalen Herausforderung angekommen: Der potenziellen Taufe.

 

Über einen kleinen fast zugefrorenen See waren zwei Seile gespannt, eines für die Füße, eines für die Hände. Wir mussten den See also überqueren. Einzeln diesmal, und das war gut so. Denn als der erste Mutige die Hälfte des Seiles erreicht hatte, fingen die Veteranen an, am Seil zu rütteln. Hin und her und hin und her schaukelte der Seiltänzer – bis er dann plötzlich im Wasser schwamm. Durch das dünne Eis war er hoffnungslos durchgebrochen, und jetzt musste sich erst einen Weg ans sichere Ufer bahnen. Wir, die wir die Überquerung noch vor uns hatten, hielten geschockt den Atem an. Würde uns das gleiche passieren? Als der nächste das Seil betrat, war das Schaukeln nicht mehr so heftig, und so rutschte er zwar mit den Füßen ab, konnte aber trotz der nassen Schuhe wieder Halt am unteren Seil finden. Und da es auch die anderen mehr oder weniger trocken über den See schafften, blieb es Gott sei Dank diesem heftigen Einzelfall. Ich hatte mir beim Warten auf den großen Moment sagen lassen, was „Bitte nicht wackeln!“ auf Litauisch heißt, und scheinbar hatte meine litauische Bitte so sehr gewirkt, dass ich wirklich fast ungeschüttelt und deshalb trocken am anderen Ufer ankam. Huff, da wurde mir trotz der Eiseskälte (wir hatten ja immer noch keine Jacken an) dann doch noch warm ums Herz. Als Zeichen des nun offiziell bestandenen Aufnahmerituals bekam ich einen grünen Punkt auf die Stirn gestempelt. Und als es dann auch meine Freunde über den See geschafft hatten, wollten wir nur mehr eins: ab in die Sauna!

 

Alle Anstrengung und Anspannung wich im heißen Dampf augenblicklich von uns. Welch wunderbare Wohltat! Wir schwitzten, schwiegen und plauderten, und genossen die wohlige Wärme, die sich spürbar im ganzen Körper ausbreitete. Für heute war alles geschafft, jetzt hieß es nur noch entspannen und genießen! Wurde es zu heiß, dann sprangen wir kurzerhand raus aus der Sauna und rein in den eisigen See. Und dann aber sofort wieder in die Sauna! Nach einiger Zeit, als weniger Leute in der Hitze brodelten und mehr Platz war, durfte ich als einzige Nicht-Litauerin noch ein besonderes Wellnessprogramm erleben: mit zusammengebundenen Birkenzweigen wurde ich am ganzen Körper abgeschlagen. Zuerst fühlte es sich noch etwas komisch an, und vor allem an die Vorstellung, mit Zweigen geschlagen zu werden, musste ich mich erst mal gewöhnen. Dann aber fühlte ich mich wie eine Prinzessin und ziemlich geehrt. Schön ist das, einheimische Freunde zu haben und dadurch was ganz Neues zu erleben!

 

Es war dann echt schon spät und der Tag hatte frühmorgens begonnen. Aber revitalisiert nach der entspannenden Sauna und dem hervorragenden Essen – plötzlich war nämlich auch noch eine frische Chili con carne aufgetaucht – hatten wir dann doch noch Kraft zum Tanzen. Ohne jegliche Noten spielte unser Musikant auf dem Akkordeon und wir hüpften und drehten uns und tauschten Partner und sangen und tanzten schon fast in Trance. Ich weiß nicht, wie spät es war, als ich dann zu guter Letzt noch eine ausgiebige Massage für meine schmerzenden Knie bekommen habe. Völlig erschöpft schlief ich dabei nämlich ein, schlug irgendwann die Augen auf und hörte immer noch Leute am Tisch neben mir quatschen, woraufhin ich wieder weg döste. Als ich mich dann doch irgendwann in meinen Schlafsack verkrochen hatte, träumte ich von einem lauten Krach und Gesang, der mich aber, weil ich eh nichts verstand, nicht weiter störte. Am Morgen erfuhr ich dann, dass ich nicht geträumt hatte, sondern der Lärm echt gewesen war. Die letzten munteren Gestalten hatten nämlich beschlossen, mit Kochtöpfen und ihren Stimmen nochmal richtig aufzuheizen. Doch mich konnte nichts mehr stören – in meinem wohlverdienten Prinzessinnenschlaf.