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Intensitätsvarietäten, oder Lebensweisenschock hoch 2

 

Übertriebene Kurzfassung:


Die Heimfahrt nach Österreich war die Transition von 0 auf 100, die Rückfahrt nach Litauen von 100 auf 0. Doch dann ging’s erst so richtig los!

 

Realistische Langfassung:


Im Dezember verlief mein Erasmus-Leben ziemlich ruhig. Der Drang, neue Freundschaften zu schließen, winterliche Nationalparks zu durchwandern oder gemütliche Cafés zu entdecken, war vorüber. Wir StudentInnen hatten nur noch unsere Prüfungen und Hausarbeiten im Sinn, aber weil ich schon während des Semesters überraschend brav gearbeitet hatte, fiel mein übriges Lernpensum mickrig aus. Ich hatte an den grauen Wintertagen also einfach nicht so viel zu tun und verbrachte viel Zeit allein in der Wohnung, und so versetzte ich meinen Körper in einen vorübergehenden Winterschlaf.

 

Von 0 auf 100  wurde ich schlagartig aus meinem Winterschlaf gerissen. „What do we want? Climate Justice! When do we want it? Now!”, “Whose future? Our future! Whose planet? Our planet!” und “Wer nicht hüpft, der ist für Kohle, hey, hey!” schallten über den Wiener Heldenplatz. Ja genau, ich war am Climate Strike gelandet. Danach ging’s zur Weihnachtsfeier von Generation Earth. Dann nach Hause zu Magdalena, die Michael und mich freundlicherweise zu später Stunde beherbergte. Am nächsten Tag mit Radl und Zug nach Enns, wobei uns so manche Müdigkeitsfehler unterliefen. Völlig erschöpft kam ich nach einer aufregenden Reise im Hause Spiekermann an. Na halleluja!

 

Was dort folgte waren meine Erschöpfung, Reizbarkeit und Überforderung. Kaum angekommen, wurde ich mit so vielen Geschichten, so vielen Entscheidungen, so vielen Eindrücken, so vielen Wiedersehen, so vielen Plänen und vor allem so vielen Diskussionen konfrontiert. Ich wollte am Geschehen teilhaben, das Familienleben aufsaugen – aber zwischendurch brauchte ich regelmäßige Pausen zum Schlafen, Klavier spielen, Lesen oder Tagträumen, denn ich war den Trubel und das ständige Leute-um-mich-Haben einfach nicht mehr gewohnt.

 

Ein Monat lang war ich dem besagten Trubel (zugegebenermaße absolut freiwillig) ausgesetzt. Die familiären Weihnachtsfeiertage, die langersehnten Treffen mit FreundInnen in Enns, Kirchdorf, Wien und Graz, der schneereiche Familienurlaub, die hoffnungsbringenden Climate Strikes, die zukunftsweisenden Begegnungen, die inspirationsreiche Generation Earth Ideenschmiede, das fulminante Gala-Dinner, der eindrucksvolle Ballabend, die erinnerungswürdigen Gespräche mit Oma und Opa – ständig war was los, ständig sprühte ich vor Energie und hielt mein Aufmerksamkeitslevel auf 140%.

 

Abschied zu nehmen fiel mir schwer. Während meines Heimaturlaubs hatte ich nur schöne, aufregende Momente erlebt, nur liebe, mir wichtige Menschen getroffen, nur bereichernde, freudebringende Aktivitäten gemacht. Ein Leben in Litauen, ohne diese Momente, ohne diese Menschen, ohne diese Aktivitäten war mir im wahrsten Sinne des Wortes un-vorstellbar. Und wirklich, von 100 auf 0 änderte sich meine Lebensweise in dem Augenblick, als ich in Enns in den Zug stieg. Denn die nächsten 24 Stunden sprach ich (mit Ausnahme des Schaffners) mit keiner einzigen Person.

 

In Vilnius angekommen fühlte ich mich fehl am Platz und nutzlos. Auf Grund der Ferien war die Stadt völlig leer und es gab keine Veranstaltungen. Meine Erasmus-Freunde waren nach dem ersten Semester nach Hause gefahren  und meine litauischen Freunde waren während der Ferien bei ihren Familien. Die graue Wolkendecke hing dicht über der Stadt und war für meine Stimmung kaum förderlich. Wo war all die Fröhlichkeit? Die Tiefsinnigkeit? Die Kreativität? Wo waren die Reisepläne? Die Diskussionsabende? Die Projektideen? Okay okay, um genau zu sein: Letzte waren da, in mir, und wollten auch nicht mehr schwinden. Ich spürte meinen Tatendrang, wollte was tun, doch wusste nicht was, nicht wo, nicht mit wem. Ich merkte meine eigene Unzufriedenheit, meine Hilflosigkeit, mein Mich-fremd-fühlen, wollte diese Gefühle abschütteln, doch wusste nicht wie. Kurzum: Ich durchlebte eine Sinnkrise, einen Kulturschock und einen Lebensweiseschock – und das alles zur gleichen Zeit.

 

Jetzt im Nachhinein blicke ich mit einem verschmitzten Grinsen und in weiser Reflexion auf diese Tage zurück. Endlich hab ich ein richtiges Down im Ausland erlebt (ja, das „endlich“ mag komisch klingen, aber so eine Krise war mir in den letzten dreieinhalb Jahren im Ausland noch nie passiert und ich konnte nie nachvollziehen, was uns in den Vorbereitungsseminaren prophezeit worden war). Endlich kam ich mal so richtig an meine eigenen Grenzen, die ich selbstständig auch nicht ohne Weiteres überwinden konnte (aber Gott sei Dank hab ich ja liebe Freunde, die mich wieder aufbauten). Endlich musste ich erst einen Schritt zurück treten, um dann wieder nach vorne gehen zu können.

 

Oh, der letzte Satz klingt aber schon wieder sehr positiv! Und wirklich, die Krise hat mich buchstäblich nach vorne katapultiert. Ich hatte nämlich verschiedenste Menschen um Rat gebeten, wie ich mich in Litauen engagieren könnte, welchen Organisationen ich beitreten, welche Projekte ich umsetzen könnte. Daraufhin bekam ich viele Antworten (von Maltesern über Tierheim und Internationale Frauengruppe bis hin zum Cleanup Day) und bald war ich im Organisationsteam für die Earth Hour, welche weltweit Ende März stattfindet, gelandet. Der Tatendrang der Gruppe überzeugte mich und ich lernte viele interessante, sehr vernetzte Leute kennen. Bei einem Vortrag über den Klimawandel kam ich dann wieder mit einigen engagierten Leuten ins Gespräch. Und als ich mit Adele, einer litauischen Freundin von SGMD, am Heimweg über meine ambitionierten Climate Strike-Ideen quatschte, fiel mir ein Stein vom Herzen. Zwar konnte sie sich einen Streik fürs Klima in Litauen nicht wirklich vorstellen, da sie ihre Landsleute als großteils gleichgültig, introvertiert und uninteressiert darstellte,  aber sie redete mir die Idee auch nicht aus. Das erste Samenkorn für einen Climate Strike in Vilnius war also gesetzt!